Zerstückelt oder vielfältig, die Bildungslandschaft in NRW präsentiert
sich als von vielerlei Reformen geprägt – nicht nur zu ihrem Besten …
Zur Lage
Im jährlichen Bildungsmonitor des Instituts der Deutschen Wirtschaft belegt das Schulwesen in NRW 2023 insgesamt Platz 13 von 16. Die Bildungsausgaben je Grundschüler sind die geringsten in Deutschland und liegen – trotz Fortschritten in den letzten Jahren – um 1.000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil erfolgreicher Absolventen an allen Abgängern von Berufsfachschulen, Fachoberschulen und Fachschulen sowie aus der Berufsvorbereitung ist gering.
Die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen scheint völlig ins Ungleichgewicht geraten: Viele leistungsschwache Schüler besuchen das Gymnasium, zu wenig leistungsstarke die Gesamtschule. Das Nebeneinander der Systeme produziert eine Vielzahl von Verlierern, da Eignungskriterien, Durchlässigkeit und passgenaue Förderung unzureichend sind. Die Fokussierung auf Abitur und Akademiker ist mitverantwortlich für den zunehmenden Mangel an Facharbeitern und Handwerkern sowie Hilfs- und Pflegekräften. „Schulfrieden – und nun?“ Ein Kommentar
Daten zum Schulsystem NRW Lehrkräfte Schüler Grundschulempfehlung
♦ Gegliedertes Schulsystem doch nicht ungerecht – im Gegenteil ?
Anders als bisher angenommen verstärkt eine strikte Differenzierung nach Leistung beim Übergang an die weiterführende Schule nicht die Bildungsungerechtigkeit. Sie kann sogar bei allen Schülerinnen und Schülern zu einem höheren Leistungsniveau führen. Zu dieser Erkenntnis kommen die Soziologen Hartmut Esser und Julian Seuring in ihrer neuen Studie „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit“ (2020).
Interview Dt. Schulportal Bericht n4t Kurzdarstellung zur Studie Konsequenzen – ein Kommentar
Eine Verzweigungsoption der Schullaufbahn erleichtert tatsächlich eine adäquate Förderung sowohl der leistungsstarken wie auch der lernschwächeren Schüler. Würde man zudem die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen erhöhen, bliebe auch späterer Aufstieg offen. Gemäßigt heterogene Lerngruppen haben sich als besonders entwicklungspositiv erwiesen. Wikipedia Schulverwaltung NW 2013
Auch weiterhin bilden sich immer wieder kommunale Initiativen, die ein vielfältig gegliedertes Angebot an Schulformen in der Sekundarstufe I aufrecht erhalten wollen – um etwa die Stärken einer überschaubaren Hauptschule zu nutzen.
Beispiel Zülpich 2015 Streit in Mönchengladbach 2022
♦ Zankapfel Bildungsgerechtigkeit
Arbeiterkinder studieren nicht so häufig wie der Nachwuchs von Ärzten – diese schichtspezifische Ungleichheit der Bildungschancen ist weltweit zu beobachten. Wesentliche Gründe dafür: familiäres Bildungsniveau und -zutrauen, Möglichkeit zu bzw. Zugriff auf frühkindliche Förderung, Einkommensunterschiede (Schulnebenkosten, Nachhilfe). Die Schule soll aber herkunftsbedingten Nachteilen entgegenwirken. Wie dies möglichst effektiv geschehen kann, darüber bestehen unterschiedliche Auffassungen.
Meinung 1: durch ein integriertes, möglichst inklusives Schulsystem. Wenn alle Kinder (möglichst lange) den gleichen Unterricht besuchten, könnten alle auch optimal gefördert werden, würden Schwächere nicht vorzeitig ’steckenbleiben‘. Eine Langzeitstudie (Fend, 2008) stellte dazu fest: Die soziale Auslese verringert sich so nicht.
Meinung 2: durch geordneteren Unterricht (Giesecke 2003), spezifischere Förderung (z.B. Böttcher 2022) und verbindlichere Eignungsempfehlungen (Esser & Seuring 2020). Ersteres käme insbesondere schwächeren Schüler zu Gute, Letzteres könnte bildungsfernere Eltern ermutigen – und finanzkräftigen einen Riegel vorschieben.
Das ifo-Institut Berlin kam 2024 zu dem eigentümlichen Schluss, die Bildungsgerechtigkeit beim Leistungsschlusslicht Berlin sei größer als beim Top-Performer Bayern. Ein solcher ‚Befund‘ legt spontan zynische Kommentare nahe („Ist es also gerechter, wenn alle gleich schlecht sind?“); tatsächlich konstatierten Kritiker dieser ‚Studie‘ grobe handwerkliche Mängel. Kritik focus Kritik Esser
Ohnehin kann Schule es nicht alleine richten. Der Staat müsste auch in den familiären Sektor hineinwirken, etwa durch clevere Werbekampagnen für ein lernförderliches Erziehungsklima – mit Slogans wie „Was Deinem Kind fehlt? Dass Du öfter mit ihm redest!“ oder „Dein Kind ist stärker, als Du denkst – räum‘ ihm nicht alle Probleme aus dem Weg!“
Strittig ist, wie groß die ‚Bildungsungerechtigkeit‘ hierzulande überhaupt anzusetzen ist. Denn beim Blick auf andere Länder sind unterschiedliche Kontexte zu beachten – sonst vergleicht man Äpfel mit Birnen. Finnland etwa hat kaum Migranten, viel kleinere Schulen und häufiger Frontalunterricht; und Krankenschwestern, die aus Arbeiterfamilien stammen, gelten als sozial aufgestiegen, weil jetzt akademisch gebildet. Oder Japan: Von klein auf werden Kinder dort zu Beharrlichkeit erzogen – und sie wenden viel mehr Lernzeit auf als die unsrigen. Kommentar Felten
Im übrigen wird in Deutschland v.a. die akademische Überorientierung (Kommentar Dollase) zum Problem: die Gesellschaft kämpft mit Fachkräftemangel, nicht mit Knappheit bei Studierten. Die Schweiz hat dieses Problem nicht – dort gilt eine Gymnasialquote von 20%.
♦ „Der nächste Bildungsabsturz“
Der Münchner Bildungsökonom Ludger Wössmann hat festgestellt, dass sich nach dem Pisa-Schock 2000 die Lernleistung deutscher Schüler deutlich besserte (bis zu 80%). Seit 2010 fällt sie aber wieder, und zwar dramatisch.
Die ZEIT (41/2021) sieht dafür zwei Gründe: Erstens habe sich das Land verändert (Steigerung der ’schulischen‘ Migrationsquote um 140%). Und zweitens seien die Schulen überfordert worden (v.a. ‚dank‘ geringer Lernchancen am Schulnachmittag sowie durch unterfinanzierte und planlose Inklusion).
Bildungsforscher Olaf Köller nennt als Auswege u.a.: ein sportlicher Leistungsanspruch für alle Schüler; mehr Herz und Hilfe für die schwachen Schüler; freiheitliche Kreativität, sobald die basics gesichert sind.